Ein Bier mit Whiskey

Text Sebastian Schneider
Bilder Urs Bucher
Ein weiches Tigerfell, lange Schnurrhaare und ein prüfender Blick
nach links, nach rechts. Der Kater kommt.

Zielgerichtet und doch vornehm tappt er über das Trottoir. Er zielt an den Zweibeinern vorbei, die draussen sitzen, trinken und rauchen. Auf der Schwelle unter der Eingangstüre hält er inne, schaut kurz zu den Gästen rüber und stolziert in die Bar. Hier ist er Held, hier ist er König.

Der Tiger weiss, dass sie ihn lieben. Ganz besonders die drei Frauen, die regelmässig im «La Buena Onda» an der Lämmlisbrunnenstrasse einkehren und mit ihm schmusen. Fast täglich kommt er hierher, schon längst ist er Stammgast. Und als VIP verbringt er hier gerne ein Weilchen, unbeeindruckt vom Lärm. Denn weder das Knarren des Holzbodens noch der Krach der Zweibeiner mit ihren klirrenden Gläsern können ihn erschrecken. Seine Konzentration gilt ganz den Annehmlichkeiten, die ihm hier zuteilwerden.

Alle in der Bar sagen sie Whiskey zu ihm, und wenn er will, reagiert er auf diesen Namen. «Er weiss, wie’s läuft», sagt ein Stammgast. Ein Geniesser sei er. Er fresse nur die feinen Katzen-Salamistäbli. Mit Trockenfutter oder dergleichen lasse er sich nicht abspeisen. Zerkleinerte Salamistäbli hingegen frisst er, wie sich zeigt, den Barbesuchern aus den Händen. Und ja, schnurren, das kann er natürlich auch.

Whiskey hält sich einigermassen fit trotz der Zusatzmahlzeiten ausserhalb seiner eigentlichen Bleibe. Nur im Winter
setzt jeweils etwas Speck an. Doch auch in den sportlichen Sommermonaten ist die Theke des «La Buena Onda» eine zu hohe Hürde für ihn. Wer den elfjährigen Kater auf Augenhöhe streicheln will, muss ihn hochheben. Beim Termin mit den Pressevertretern wird der Tresen zum Laufsteg. Wie ein Model läuft Whiskey für den Fotografen auf und ab. Die Zusatzbeleuchtung durch ein Smartphone stört ihn dabei nicht. Im Gegenteil, er zeigt sein Köpfchen jetzt von allen Seiten, posiert wie eine Katze aus der Futterwerbung. Es ist offensichtlich: Dieser Kater liebt Aufmerksamkeit.

Whiskeys Unverfrorenheit macht ihn zu einer Quartierberühmtheit wie vielleicht Mani Matters Ferdinand. Die Gäste im «La Buena Onda» sind sich jedenfalls sicher, dass Whiskey auch andernorts einkehrt und sich Zwischenmahlzeiten einholt. «Ein Lausbub ist er», sagt sein Besitzer, dem das Ganze ein bisschen missfällt. «Der
Kater ist gut versorgt. Wir füttern ihn, bringen ihn zum Arzt», sagt der Inhaber eines HiFi-Geschäfts an der Rorschacher Strasse unweit der Bar.

Der Besitzer hat das Problem mit den betroffenen Personen bereits besprochen. Doch aufhalten lässt
sich Whiskey, der zu Hause Lilly heisst, nicht. «Er lebt halt in seiner eigenen Katerwelt und ist gerne auf der Leutsch.» Zudem begibt sich Whiskey schon seit vielen Jahren auf Quartierausflüge. Als das tschechische Paar Jirko Vesely und Iva Medkova das «La Buena Onda» vor fünf Jahren übernommen hat, war der Kater bereits Bar-bekannt. «Whiskey» soll er heissen, erfuhren die Wirte von Kennern.

Sein Jagdrevier ist der Stadtpark. «Ich weiss nicht, wie viele Mäuse und Vögel er uns schon gebracht hat», sagt sein Besitzer. Erstaunlicherweise ist ihm auf seinen Touren seit vielen Jahren nichts zugestossen. Ein Kater, der ständig die Rorschacher Strasse unbeschadet überquert, muss ein kluges Köpfchen sein, sind sich alle einig. Nur
ein Unfall ist bekannt: Vor etwas mehr als sechs Jahren war der Kater von einem Auto angefahren worden. Er taumelte ins HiFi-Geschäft zu seinem heutigen Besitzer. Er und seine Frau brachten das angeschlagene Tier zum
Arzt. Nach einer Woche Hausarrest und einer Antibiotika-Kur erholte sich der Tiger. Weil sich Whiskey schon seit längerer Zeit im HiFi-Geschäft wohlfühlte, übernahm das Paar den Kater nach dem Vorfall – natürlich in Absprache mit den ursprünglichen Besitzern.

Nach dem Fotoshooting auf der Theke und einigen Streicheleinheiten verlässt Whiskey die Bar. Ein Stammgast
kennt seinen Weg genau, der nun über einen Glascontainer, durch einen Haag und über die Strasse zum Park führt. «Vielleicht kommt er nochmals.» Werde es Whiskey im Stadtpark langweilig, kehre er jeweils zurück in die Bar. «Tja», fügt der Stammgast an, «Whiskey lebt sein Leben. Einer von wenigen, der das wirklich tut». Der Stammgast
nippt an seinem Getränk. Jetzt ist er nachdenklich. Und Whiskey macht sich auf leisen Pfoten davon.