Weltes Welt

Text Malolo Kessler
Bilder Urs Bucher

Franz Welte ist der Grand Monsieur der Gratiszeitungen in St. Gallen: Seit 60 Jahren ist der 78-Jährige Journalist. Eine Annäherung an einen, der als unnahbar und unbequem gilt – in einem Gespräch über seine Kindheit in Heimen und seinen Ruf als Haudegen, über einen «möffen» Politiker und Christoph Blocher.

Hätte er selbst diesen Text hier verfasst, er wäre schon vor zwei Stunden damit fertig gewesen. Er hätte vermut­lich nicht zig Anfangssätze geschrieben und sie wieder verworfen, er hätte wahrscheinlich nicht gehadert und wieder von vorne begonnen. «Nein», sagt Franz Welte, «ich finde beim Einstieg immer sofort den Rank. Nicht immer gleich schnell, aber ziemlich schnell.» Vielleicht Routine, vielleicht ein Überbleibsel aus vergangenen Zei­ten, in denen das Schreiben der Schreibmaschine wegen mühseliger war. Franz Welte, Kürzel we, ist seit 60 Jah­ren Journalist. Die meisten davon hat er für die «St. Galler Nachrichten» geschrieben, heute beheimatet an der Zür­cher Strasse 172 im Westen der Stadt. Hier sitzt Welte in einem Raum, der halb Sitzungszimmer, halb Rumpel­kammer ist. Ein beigegrauer Spannteppich, weisse Wän­de ohne Bilder, ein weisser Tisch. Auf dem Boden ste­hen ein paar Kartonschachteln, durch das Fenster dringt wenig Tageslicht. Auf den ersten Blick wirkt der 78-Jährige hier ein wenig deplatziert. Er, der Grand Monsieur der Gratiszeitungen, der auf dieser Redaktion jahrzehnte­lang Chef war. Auf den zweiten Blick gibt es vermutlich keinen Raum, der besser zu Franz Welte passen würde als dieser hier. Nüchtern, unverblümt und unfassbar.

DIE ERSTE UND LETZTE ZIGARETTE

Einmal wöchentlich noch kommt der Journalist an die Zürcher Strasse, um die Wochenzeitung vor dem Druck korrekturzulesen. Ein Büro hat er nicht mehr. Seine Artikel, die er im Rahmen seines 10- bis 20-Prozent-Pensums schreibt und die von Themen handeln, «die im Team nicht so beliebt sind, zum Beispiel Lokalgeschichte oder Politik», entstehen daheim in Teufen. Ihm sei es wichtig, dass er niemandem vor der Sonne stehe. «Jetzt sind die Jungen dran», sagt we, wie fast immer im Sakko und mit Seitenscheitel. Die Kaffeetasse hat er säuberlich auf einer Untertasse abgestellt.

Seine ersten Lebensjahre verbrachte Welte in der Stadt Luzern. Als er zwei Jahre alt war, starb sein Vater. «Meine Mutter hatte noch keinen Beruf erlernt und musste uns irgendwie versorgen», erzählt er. Weil sie nicht gleichzeitig Psychologie studieren und sich um die Kinder kümmern konnte, verbrachte Welte die nächsten Jahre, zwischen 1944 und 1949, in verschiedenen Kinderheimen. Und das mitten in einer der düstersten Zeiten in der Geschichte des Schweizer Sozialwesens: Die Zeit der Verdingkinder, der Kinder der Landstrasse und der administrativ Versorgten. Damals wurden Hunderttausende von Kindern und Jugendlichen aus ihren Familien gerissen und in «Erziehungsanstalten» untergebracht oder als Arbeitskräfte in andere Familien vermittelt, etwa weil sie nur einen Elternteil hatten, als Fahrende lebten oder die Mutter in den Augen der Behörden einen «liederlichen Lebenswandel» führte. Welte sagt, in dieser Zeit in den Heimen habe er einiges erlebt. «Wir wurden nicht mit Samthandschuhen angefasst.»

Als er zehn Jahre alt war, seine Mutter fertig studiert hatte und in eine Praxis in Zürich eintrat, zog Welte wieder zu ihr. Er besuchte die Sekundarschule und absolvierte eine Kaufmännische Ausbildung. «Mich zog der Journalismus schon damals an, daher machte ich das KV in einem Verlag.» Er begann während der Lehre zu schreiben und bot seine Texte dem Magazin des Tagesanzeigers an, welches sie abdruckte – we war geboren. An den Titel seines ersten Textes kann er sich nicht mehr erinnern, an den Inhalt schon. «Er drehte sich um meine erste Zigarette.» Ein schelmisches Lachen, ein Kichern fast. «Diese war tatsächlich auch meine letzte.»

BERN, DIE «BONZENSTADT»

Nach der Lehre zog es Welte für zwei Jahre nach Bern, das war 1968. Die Zeitung gibt es, wie so viele, heute nicht mehr. Und Bern, sagt er, sei eine richtige «Bonzenstadt» gewesen. «Die Politiker waren abgehoben und sehr weit von den Journalisten entfernt.» Einer seiner Redaktionskollegen habe dann von St. Gallen geschwärmt. «Er sagte, dass die Leute da sehr aufgeschlossen seien», erinnert sich Welte. Und so habe es ihn gen Osten gezogen. Zuerst schrieb er zwei Jahre lang für die linke «Ostschweizer Arbeiterzeitung», die zu Beginn noch «Volksstimme» hiess. Dann wechselte er zum «Anzeiger». Dort erschrieb er sich während 17 Jahren Respekt bei Behörden, Politik und Konkurrenz. «Seine Enthüllungsgeschichten waren berühmt-berüchtigt», erinnert sich ein Journalist, der Welte seit seinen Anfängen in St. Gallen kennt. «Er war beharrlich und hatte eine spitze Feder.» Welte selbst sagt, er sei einer, der schon immer denen eine Stimme geben wollte, die wenig gehört werden. Dabei stand er dem Polit-Establishment regelmässig auf die Füsse. Seinetwegen führte die Stadt eine «Lex Welte» ein, die besagte, dass nur noch gewisse Mitarbeitende von Behörden Auskünfte an Journalisten erteilen dürfen. Einen Regierungsratskandidaten habe er mit einer Geschichte, «die dessen Jugendzeit aufhellte» so «möff» gemacht, dass dieser ihn nachher jahrelang ignorierte. «Heutzutage wäre ich vermutlich nicht mehr so aggressiv», sagt Welte. Zu den Geschichten seines Lebens zählen jene über «Ausbrecherkönig Stürm». Walter Stürm, Ostschweizer Industriellensohn und Berufskrimineller, wurde mit zahlreichen Ausbrüchen aus Gefängnissen landesweit bekannt. So brach er an Ostern 1981 aus einer Strafanstalt aus, nachdem er dort eine Notiz mit den Worten «Bin am Ostereier suchen, Stürm» hinterlassen hatte. Er wurde in den 1980er-Jahren vor allem in der links-alternativen Szene gefeiert, als Kämpfer gegen schlechte Haftbedingungen und als Gentleman-Gauner. Und Welte? «Während er von der breiten Öffentlichkeit zum Märtyrer gemacht wurde, bezeichnete ich ihn als Schwerverbrecher. Ich fand, dass man auch sehen musste, dass er kriminell war und viele seiner Opfer gelitten hatten.» Das trug dem Journalisten eine Klage ein. Stürm prozessierte bis vor Bundesgericht, Welte wurde von allen Instanzen freigesprochen. «Ich hatte mir damals gesagt: Wenn ich nicht freigesprochen werde, wenn es tatsächlich nicht mehr möglich ist, so etwas zu schreiben, dann schreibe ich in meinem Leben keine Silbe mehr.» Und hätte er das rückblickend wirklich durchgezogen? Er lacht. «Dafür würde ich nicht die Hand ins Feuer legen, nein.» Er selbst nicht, sein Umfeld nicht – wahrscheinlich keiner, der ihn kennt. Welte war Vielschreiber, Schnellschreiber, Informationsdienstleister. Mit einer Affinität für Autos und Aussenseiter. «Oft meinen die Leute, ich sei ein Haudegen», sagt er. «Aber das bin ich nicht.» Ihm sei es wichtig, auf Augenhöhe zu recherchieren und nicht davon auszugehen, als Journalist eine Machtposition inne zu haben. Und hässig mache ihn mittlerweile vor allem etwas: Wenn er in der gedruckten Zeitung einen Fehler entdecke.

UND DANN KAM BLOCHER

Als der «Anzeiger» in den 80er-Jahren vom St. Galler Tagblatt übernommen wurde, wechselte we zu den St. Galler Nachrichten, die kurz zuvor gegründet worden waren. Während 30 Jahren prägte er das Lokalblatt. Er war an fast jeder Pressekonferenz dabei, die Kamera über den leicht gebeugten Schultern, schrieb sich die Finger wund für die Wochenzeitung, wirkte manchmal wie ein Wolf im Schafspelz, dann wieder wie das Schaf im Wolfspelz.

Während seiner Zeit als Chefredaktor der St. Galler Nachrichten kämpfte er mit schmalem Budget und grossem Einzugsgebiet, das sich zwischenzeitlich vom Bodensee bis zum Zürcher Unterland erstreckte. Er bildete Volontär um Volontärin aus und schuf aus Geldnot eigene Lehrmittel dafür. «Mein Credo war stets, dass man einfach das Beste aus dem macht, was man hat», sagt Welte. Er sei stolz darauf, so viele junge Journalistinnen und Journalisten ausgebildet zu haben, die heute die Ostschweizer Medien- und Kommunikationslandschaft mitprägen.

Im Jahr 2017 bekamen die St. Galler Nachrichten mit Christoph Blocher einen neuen Eigentümer.  Welte war zu diesem Zeitpunkt eigentlich bereits pensioniert gewesen, hatte die Chefredaktion aber wegen eines unrühmlichen Abgangs noch einmal zeitweise übernehmen müssen. «Ich war vermutlich nicht der Einzige, der überrascht war», sagt Welte. Ja, auf der Redaktion habe man sich gefragt, was der Besitzerwechsel für Auswirkungen haben könnte. «Meiner Meinung nach wäre es völlig falsch gewesen, wenn wir als Gratisblatt als SVP-Sprachrohr herausgekommen wären – gerade für Zeitungen wie die Nachrichten ist es extrem wichtig, ausgeglichen zu berichten.» Welte sagt, Blocher habe sich nie in redaktionelle Belange eingemischt, sich nie bei ihm gemeldet. Er habe nie mit ihm gesprochen und Blochers Kolumnen bekäme die Redaktion einfach zugeschickt. Und während sich Welte selbst vor gut zehn Jahren noch als links der Mitte bezeichnet hatte, würde er sich heute selbst als politisch in der Mitte bezeichnen.

«IN ERESTER LINIE JOURNALIST»

Welte ist ein Journalist, wie es sie heute eigentlich fast nicht mehr gibt. Er ist einer, der in der Duzis-Welt des Journalismus auch nach Jahren gegenseitigen Kennens konsequent beim «Sie» bleibt. Der nie in offenen Schuhen an eine Pressekonferenz gehen würde. Er ist ein wenig wie ein Relikt aus einer Zeit im Journalismus, die es heute nicht mehr gibt. Einer Zeit, in der die Texte länger waren und die Distanz zur Leserschaft kleiner, die Fluktuation auf den Redaktionen niedriger war. Und alles langsamer. Viel langsamer. Welte ist, wie mehrere journalistische Wegbegleiter sagen, «in erster Linie Journalist». Er selbst sagt, er habe in seinem Leben keine grossen Eskapaden erlebt: «Es kommt mir einfach vor, als hätte ich immer gearbeitet.»

Wird er gefragt, sagt Privatmensch Welte, dass er gerne lese, am liebsten Klassiker der Literatur. Seine Frau Ines führte mit zwei Kolleginnen bis zu ihrer Pensionierung die «Bücher-Insel» am Blumenbergplatz. «Das hat abgefärbt.» Gemeinsam haben sie zwei Kinder. Von der Leidenschaft zum Journalismus liess sich keines anstecken: Weltes Tochter ist Juristin und arbeitet für eine Grossbank, der Sohn ist Physiotherapeut. We ist mehrfacher Grossvater – und zumindest ein Grosskind hat während des Jus-Studiums an der HSG ein Volontariat bei den Wiler Nachrichten absolviert. «Wer weiss, vielleicht zieht es ihn irgendwie in diesen Bereich.» Und er, wie lange möchte er noch we sein? «So lange es eben geht.» Eine kurze Pause, zufriedenes Nicken. «Ja.»